Die temporären Kunstprojekte als ein kollektiver Arbeitsprozess

Martin Schönfeld
Büro für Kunst im öffentlichen Raum, Mitglied der Fachkommission für Kunst im öffentlichen Raum des Bezirks Marzahn-Hellersdorf von Berlin

Kunst im öffentlichen Raum im Rahmen eines Städtebauförderprogramms durchzuführen, war sicherlich ein ungewöhnlicher und mutiger Vorschlag. Als 2008 bekannt wurde, dass die Marzahner Promenade für das Programm Aktive Zentren ausgewählt worden war, nahm sich die Fachkommission für Kunst im öffentlichen Raum des Bezirks Marzahn-Hellersdorf von Berlin dies zum Anlass, sich mit einem eigenen Projektvorschlag in die Vorbereitung des Zentren-Programms einzubringen. 

Der konzeptionelle Ansatz der Bezirks-Fachkommission zielte von Anfang an auf temporäre Kunstprojekte. Die Fachkommission hatte sich seit Mitte der 2000er Jahre immer wieder mit der Frage des Umgangs mit vorhandener und dauerhaft geschaffener Kunst am Bau befassen müssen, die bei damaligen Rückbauten ihre Standorte verlor. In diesem Zusammenhang hatte die Fachkommission das umfangreiche Erbe einer Kunst in den Großsiedlungen, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren in Marzahn und Hellersdorf scheinbar für die Ewigkeit entstanden war, erforscht und der breiten Öffentlichkeit mit einem Dokumentationsband bekannt gemacht (vgl. Ellena Olsen, Thorsten Goldberg, Andreas Sommerer und Martin Schönfeld: Kunst in der Großsiedlung, Kunstwerke im öffentlichen Raum in Marzahn und Hellersdorf, hrsg. v. Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf von Berlin, Berlin 2008). Vor diesem kunst- und lokalhistorischen Hintergrund wollte die Fachkommission dem öffentlichen Raum der Marzahner Promenade keine neuen Monumente einfügen. Gegenüber 
dem komplizierten Umgang mit dem Vorhandenen bot das Temporäre eine Leichtigkeit und Offenheit. Es mussten keine tonnenschweren Betonteile bewegt oder Mosaiksteine mühselig aus der Wand herausgenommen werden. Vielmehr sah die Fachkommission nun die Gelegenheit, einen komplexen Stadtraum interessierten Künstlerinnen und Künstlern als ein künstlerisches Labor und performatives Experimentierfeld anbieten zu können.

Wie die meisten Berliner Bezirke wird auch der Bezirk Marzahn-Hellersdorf von einer Fachkommission für Kunst im öffentlichen Raum beraten. Dieser Fachkommission gehören neben den zuständigen Stadträten und Mitarbeitern der bezirklichen Fachämter für Kultur, Hochbau, Straßen und Grünflächen sowie der Stadtplanung vor allem auch professionelle bildende Künstlerinnen und Künstler an. Ihre Aufgabe ist es, kunstbezogene Fragen und Themen mit dem künstlerischen Sachverstand zu fundieren und sowohl der Politik als auch der Verwaltung kunstkompetente Entscheidungen und Maßnahmen zu ermöglichen, die sich auf der Höhe der Zeit bewegen. Als ein kollektives Gremium bündelt die Fachkommission die unterschiedlichen Kompetenzen und die Überlegungen verschiedener Personen in ihren Empfehlungen. Diese gemeinschaftliche Erarbeitung von Positionen und Meinungen schafft ihr einen breiten Rückhalt und stärkt ihre Vorschläge gegenüber der Politik und Öffentlichkeit. Das Prinzip der Fachkommission, als eine kooperative und interdisziplinäre Arbeitsgruppe zu agieren, hebt sie von der gängigen Methode einer singulären Kuratierung ab, wie sie in den letzten Jahren in den deutschen Großstädten München und Hamburg im Format eines „Stadtkurators“ durchgeführt wurde. Letzterer zielt auf besondere Ausstellungsformate, Festivals und Kultur-Events. Dagegen befindet sich eine Fachkommission für Kunst im öffentlichen Raum in einem kontinuierlichen Arbeitsprozess, der jenseits von Highlights und Spektakeln die professionelle Kunst und Kultur im Alltag verorten möchte. Eine kurzlebige Aufmerksamkeitsökonomie in der Konkurrenz des nationalen und auch internationalen City-Marketings ist nicht das Ziel der Arbeit einer Fachkommission für Kunst im öffentlichen Raum in Marzahn-Hellersdorf. Diese möchte die künstlerische Arbeit in einen stadtgesellschaftlichen Zusammenhang einbetten. Deshalb sieht eine solche Fachkommission den Stadtraum auch nicht als einen Open-Air-Ausstellungsraum zur gezielten Präsentation von bestimmten Aussagen und künstlerischen Formaten an, wie das bei Biennalen und sonstigen Stadtkunstprojekten geschieht. Vielmehr schafft die Fachkommission Grundlagen für eine selbstbestimmte Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern. Die genauen Schauplätze der künstlerischen Aktion gibt sie nicht vor, sondern eröffnet Raummöglichkeiten, 
in denen sich die Künstlerinnen und Künstler frei verorten und ihre eigenen Schauplätze suchen und finden können. 

Die Grundlage für eine selbstbestimmte künstlerische Projektentwicklung bot der jeweilige Wettbewerb. Im Rahmen der temporären Kunstprojekte für die Marzahner Promenade wurden im gesamten Zeitraum von 2010 bis 2018 acht nicht offene Wettbewerbe und ein berlinweit offener Wettbewerb für professionelle bildende Künstlerinnen und Künstler ausgeschrieben. Mit jedem dieser Wettbewerbe wurde den Künstlerinnen und Künstlern ein ganzer Stadtraum des Bezirks Marzahn-Hellersdorf als künstlerischer Arbeitsbereich angeboten, in dessen Zentrum immer die Marzahner Promenade stand. Sie allein – in allen Facetten ihrer Materialität, Bebauung, Raumanlage und Begrünung – stellte die Bühne für die Einbringung der Projekte der Künstlerinnen und Künstler dar. Jeder dieser Ausschreibungen lag ein ausführliches Wettbewerbspapier als Auslobung mit jährlichen thematischen Schwerpunktsetzungen zugrunde, das die Geschichte der Marzahner Promenade erläuterte und die Besonderheit dieses Stadtraums verdeutlichte. So konnten sich die Künstlerinnen und Künstler mit ihren Projekten in einem noch jungen, aber schon historisch gewordenen Stadtraum bewegen. Sie konnten ihre Ideen in ein komplexes Städtebaudenkmal einbringen, das noch ohne einen Denkmalstatus ist und voraussichtlich bleiben wird. 

Zu den acht nicht offenen Wettbewerben wurden insgesamt 47 Künstlerinnen, Künstler und Gruppen eingeladen. 24 Projektvorschläge konnten realisiert werden. Zum 2016 berlinweit durchgeführten offenen Wettbewerb für das Jahr 2017 reichten 30 Teilnehmende ihre Entwürfe ein, von denen sieben ausgeführt wurden. So beteiligten sich an den neun Wettbewerbsverfahren insgesamt 77 Künstlerinnen, Künstler und Gruppen, die sich in diesem Rahmen vielfach erstmalig mit der Großsiedlung Marzahn befassten. Auch damit konnte erreicht werden, den Bezirk Marzahn-Hellersdorf unter den professionellen bildenden Künstlerinnen und Künstlern Berlins als einen interessanten und besonderen Stadtraum bekannter zu machen. Waren die Typisierungen der Großsiedlungen für individuelle Lebenskonzepte früher nicht denkbar so müssen sich Künstlerinnen und Künstler heute hierher flüchten, um noch freie Raumpotenziale für relevante künstlerische Interventionen und Aktionen finden zu können. 

Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler wurden überwiegend aus der Datei für Kunst im öffentlichen Raum ausgewählt. Sie ist Bestandteil der Förderung der professionellen bildenden Kunst des Landes Berlin und im Büro für Kunst im öffentlichen Raum im Kulturwerk des bbk berlin GmbH angesiedelt. Durch ihren Eintrag in diese Datei signalisieren die Künstlerinnen und Künstler, dass sie sich an ausgeschriebenen Wettbewerben um öffentliche Aufträge für Kunst beteiligen möchten. Eine Arbeitsgruppe der bezirklichen Fachkommission nahm die Auswahl der einzuladenden Künstlerinnen und Künstler vor. Unabhängig von der Fachkommission war die jeweilige Jury, die später die zu realisierenden Kunstprojekte auswählte. So waren die Vorbereitungs- und Entscheidungsprozesse differenziert und über die Bezirkskommission hinaus auf vielen verschiedenen Meinungen gegründet. Mit den Jahren änderte sich die Zusammensetzung der Preisgerichte kontinuierlich; ein formaler Rahmen wurde von wechselnden Personen ausgefüllt, die immer wieder andere Überlegungen in die Entscheidungsprozesse einbringen konnten. Auch dieses Prinzip einer kollektiven Leitung führte zu einer stets neuen Interpretation des gleichen Stadtraums der Marzahner Promenade. Für die temporären Kunstprojekte auf der Marzahner Promenade stand ein Jahresbudget von insgesamt 20.000 Euro zur Verfügung. Für die Kunst selbst wurden je drei Projekte mit jeweils 5.000 Euro als Realisierungsbetrag ausgeschrieben. Die restlichen 5.000 Euro wurden für das Wettbewerbsverfahren verwendet (Entwurfs-honorare der Künstlerinnen und Künstler, Aufwandsentschädigungen der Fachpreisrichterinnen und Fachpreisrichter und koordinatorische Leistungen). 

Der jeweilige Projektetat von 5.000 Euro liegt im Low-Budget-Bereich. Wenn die Künstlerinnen und Künstler auch noch ein wenig verdienen sollen, bleibt nicht mehr viel Geld für die technischen Ausgaben übrig. Dennoch erschien der Fachkommission ein solch niedriger Realisierungsbetrag akzeptabel. Schließlich zielten die temporären Kunstprojekte auf der Marzahner Promenade nicht auf eine spektakuläre Eventkultur, sondern auf punktuelle und minimale künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum, die als Ausdruck individueller künstlerischer Begegnungen mit einem Ort und dessen städtebaulicher, architektonischer und sozialer Situation in Erscheinung treten sollten. Hier war keine Kultur des Spektakels gefragt, wie sie etwa zu zeitgeschichtlichen Jubiläen von der Berliner Landesregierung am Brandenburger Tor inszeniert wird. Auf der Marzahner Promenade ging es vielmehr um eine Kultur der Begegnung mit Kunst und künstlerischer Aktion, um einen mehr oder weniger intensiven Austausch zwischen Öffentlichkeit und Künstlerinnen und Künstlern. Hier war die Kunst integrativ: sie geschah mitten im Leben der Menschen und drang bis auf die Balkone der angrenzenden Wohnungen vor. Künstlerische Recherchen schärften das Bewusstsein über den Ort, seine Materialität und Raumpotenziale. Begegnungen verknüpften das Private mit dem Öffentlichen. Darüber hinaus ging es auch um eine künstlerische Rückeroberung eines Stadtraums, der seine kulturelle und künstlerische Bedeutung zwischenzeitlich scheinbar verloren hatte. Dass Kunst im öffentlichen Raum auch jenseits repräsentativer und zentraler Stadträume eine kulturelle und gesellschaftliche Relevanz hat, haben die temporären Kunstprojekte unter Beweis gestellt. Sie haben gezeigt, wie wichtig es ist, dem Stadtraum unabhängig von seiner geplanten Funktionalität eine lebendige und aktuelle künstlerische Qualität zu verleihen. Dass gerade auch die Stadtperipherien Schau- und Handlungsplätze der zeitgenössischen bildenden Kunst sein können, haben die temporären Kunstprojekte auf der Marzahner Promenade verdeutlicht. Diesem vorbildlichen Beispiel des Bezirks Marzahn-Hellersdorf von Berlin kann gerne an vielen Orten gefolgt werden.